„Wer die Dinge beim falschen Namen nennt, trägt zum Unglück der Welt bei!“ hat Albert Camus mal gesagt.
Dem kann ich aus vollem Herzen zustimmen.
Jedoch – ist es oft auch nicht ungefährlich, die Wahrheit offen zu sagen – also „die Dinge“ beim RICHTIGEN „Namen“ zu nennen!
Wie sagt der türkische Volksmund so treffend: „dogruyu söyleyeni dokuz köyden kovarlar“,
wer die Wahrheit sagt, wird aus neun Dörfern vertrieben…
Lieber Jürgen Wilhelm,
meine Damen und Herren,
ich möchte mich für die Auszeichnung, die diesjährige Preisträgerin des Giesberts-Lewin-Preises zu sein, aus vollem Herzen und mit großer Demut bedanken. Das ist eine große Anerkennung, die mich froh macht.
Dieser Preis bedeutet jedoch für mich nicht nur eine Auszeichnung für die geleistete Arbeit, diese Auszeichnung ist für mich eine Verpflichtung, mich auch in den nächsten Jahren der Themen anzunehmen, die uns aktuell uns alle politisch und gesellschaftlich bewegen und zum Teil sehr kontrovers diskutiert werden.
Es sind Themen, die im Laufe der Jahre „zu meinen“ Themen geworden sind. Migration – Integration – Rassismus. Diese Themen sind mir ganz bestimmt nicht an der Wiege gesungen worden. Sie sind durch meine Lebensgeschichte, durch die Migration nach Deutschland und die Entwicklungen in Deutschland zu meinen Themen geworden. Aber natürlich ist der Grundstein für mein Engagement, für mein Einstehen für das, was ich für richtig und gerecht halte, in meiner Familie gelegt worden.
Als ich vor 60 Jahren in Istanbul in eine weltoffene und sehr diskussionsfreudige Familie hineingeboren wurde, waren die Themen, über die wir – auch wir Kinder – diskutiert haben, natürlich nicht Migration oder Integration, ja nicht einmal Islam war ein Thema.
In den Diskussionen in der Familie ging es um Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und den Mut, für beides einzustehen.
Und so geht es mir auch heute bei den Themen Migration, Integration und Rassismus darum, Menschenrechte und die soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund zu stellen und den Mut zu haben, die Dinge so zu beurteilen, wie ich es für gut und richtig halte.
Und das auch auszusprechen.
Was bedeutet heute – in unserem Land, einem der freiesten Länder dieser Welt – Zivilcourage? Gerade wenn es um Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit geht. Gibt es noch irgendetwas, was man in unserem Land nicht sagen kann oder darf? In einem Land, in dem man – Gott sei Dank – für seine Gedanken, ausgesprochen oder auf Papier gebracht, nicht mehr ins Gefängnis kommt, einem Land, in dem man keine Angst haben muss, bestraft zu werden, wenn man ausspricht, was man denkt.
Und doch bleibt es auch in unserem Land nicht immer ohne Konsequenzen, das zusagen und tun, was der Verstand und das Herz einem eingeben.
Die Wahrheit, oder besser: das, was man für die Wahrheit hält, auszusprechen, macht nicht immer Freunde und sorgt auch nicht bei allen für Freude, vor allem, wenn man dabei den gesellschaftlichen Mainstream verlässt;
nicht das denkt, was angeblich alle denken, zumindest alle aussprechen.
Gedanken jenseits des gesellschaftlichen Mainstream werden oft genug nicht gerne gehört, und wenn Eigennutz, gekränkte Eitelkeit oder auch nur die Vorstellung, die Wahrheit gepachtet zu haben, noch hinzukommen, sorgt das für heftigen Widerstand.
Entschlossenheit, die eigene Meinung zu vertreten, ist heute ein Synonym für Mut und Zivilcourage.
Sie bedeutet, Kritik aushalten zu können;
oft genug auch unqualifizierte Kritik.
Sie bedeutet, nicht mit den Wölfen zu heulen;
nicht nach zu plappern, was alle sagen; manchmal auch nur festzustellen, dass der König nackt ist.
Dazu zählt auch, die Schublade zu verlassen, in die man vom der gesellschaftlichen Konsens gern gesteckt wird, auch wenn es außerhalb der Schublade manchmal sehr ungemütlich wird.
Wahrscheinlich eigne ich mich mit meiner Biographie besonders gut für das Schubladendenken.
Vorgesehen war und ist für mich die Rolle der gut integrierten Türkin, in Klammern: (was immer das auch sein mag).
Die integrierte Türkin also, die vor allem freundlich und nett sein sollte. (Der Prototyp einer netten türkischen Frau) und ansonsten sich an der Stelle einzusetzen hat, die für sie vorgesehen ist und an der Stelle zu empören, die ebenfalls für sie vorgesehen ist.
Welche Stellen das sein sollen, wollen jeweils die Gruppen bestimmen, die sich dafür zuständig halten. Sobald ich meine Nase aus der Schublade herausstrecke, bekomme ich die volle Wucht ihrer Empörung zu spüren.
Einige wenige Kostproben aus Hunderten von Erfahrungen möchte ich Ihnen an dieser Stelle doch nicht vorenthalten:
1. Als ich mich bei einer Tagung der ehrwürdigen evangelischen Akademie in Tutzing als Bundestagsabgeordnete kritisch zu der damaligen Innenpolitik unter Innenminister Schäuble äußerte, stand eine Teilnehmerin auf und gab mir den guten Rat, mich lieber als Sozialarbeiterin um meine Landsleute zu kümmern, statt einen deutschen Innenminister zu tadeln. Auf meinen Einwand, ich sei doch frei gewählte Abgeordnete eines Kölner Wahlbezirks, entgegnete sie, da sei es wohl nicht mit rechten Dingen zugegangen. Ihr Schubladendenken wies mir die Rolle zu, „Migranten haben sich gefälligst um Migranten zu kümmern, mehr aber auch nicht!“
2. Bei einer Veranstaltung in der Lutherkirche in Köln Sommer 2010 zum Thema „Vorgänge um das Schiff „Mavi Marmara“ wies ich darauf hin, dass die Initiatoren aus Istanbul vor allem mit dem Ziel aufgebrochen waren, Israel zu provozieren und nicht – oder höchstens an zweiter Stelle –, um den Menschen in Gaza zu helfen. Mir war zu dem Zeitpunkt nicht klar, dass ich da gleich in zwei Fettnäpfchen getreten war.
Das Publikum bestand aus der Friedensbewegung und arabischen Aktivisten. Eigentlich hatte ich nur den Sachverhalt zurecht rücken wollen, Israel stets als den Bösen zu sehen. Doch hatte ich da wohl gleich zwei Schubladen verlassen: für die Friedensbewegten die Schublade „linke Frau“, die einfach immer gegen Israel zu sein hat, und für die arabischen Aktivisten die Schublade „muslimische Migrantin“, die – egal was ist – immer auf der Seite der Muslime sein muss.
3. Als ich mich im Mai dieses Jahres auf der Veranstaltung „kritische Islamkonferenz“ der Giordano-Bruno-Stiftung für einen liberalen Islam aussprach und die Meinung vertrat, auch der Islam sei reformierbar und damit dann mit den Menschenrechten vereinbar, wurde ich von den anwesenden Atheisten als „Taliban“ beschimpft. Die Kombination Muslimin und aufgeklärte Frau ist nicht vorgesehen. Als Muslimin bist Du eine Taliban, als aufgeklärte Frau musst Du den Islam schlecht machen.
4. Im Juni dieses Jahres war ich einem Shitstorm von Mails ausgeliefert, weil ich die Pro Erdogan Demonstration in Düsseldorf kritisiert hatte, eine Demonstration, die uns die enge Verbindung von DITIB in Deutschland mit der türkischen Erdogan-Partei AKP wieder einmal vor Augen führte. Es war eine Demonstration, auf der Erdogan als Führer verherrlicht wurde und es von „nieder mit Israel“ Rufen nur so widerhallte, eine Demonstration, die die jungen Menschen in der Türkei, die um ihr Selbstbestimmungsrecht kämpften, als Terroristen darstellen wollte. Als ich all das auf meiner Facebook-Seite schrieb, kam mir der Schwall von 40.000 Hassmails entgegen. Vor allem wurde ich als „Verräterin“ und „Nestbeschmutzerin“ beschimpft, als eine assimilierte Türkin, die mit ihren Aussagen den Deutschen gefallen wird. Die Schublade „Türkin“ zu verlassen geht nicht mal eben so, und Kritik an der türkischen Regierung geht gar nicht, jedenfalls nicht für eine Türkin.
5. Meine Äußerungen zum Kopftuch und zum politischen Islam brachten mir den Spitznamen „Kopftuchfresserin“ und den Ehrentitel kafir kirpi – auf Deutsch: der ungläubige Igel – ein, wohl eine Anspielung auf meine kurzen Haare.
Übrigens ist es mir an dieser Stelle ein Anliegen, in aller Öffentlichkeit und in aller Deutlichkeit feststellen, dass ich weder eine Agentin der diversen deutschen Geheimdienste bin noch der Europäischen Union. Dass ich weder von Mossad bezahlt werde, noch von der CIA; dass ich keiner Geheimsekte angehöre und keine Geheimkonten in der Schweiz habe, auf die irgendwelche Organisationen Gelder überweisen.
All das wird mir immer wieder gerne unterstellt.
Ich halte fest: Ich bin Freelancer der freien Meinungsäußerung.
Über diese Dinge kann ich inzwischen lachen, weil sie so lächerlich sind. Weil die Menschen mir lieber Eigennutz und Verbindungen unterstellen, als mir einen eigenen Kopf und eine eigene Urteilsfähigkeit zuzugestehen.
Weniger zum Lachen war allerdings die Mitteilung der Kölner Polizei, dass ich auf der Liste der NSU gewesen war.
Die Beleidigungen und Beschimpfungen machen mir keine Kopfschmerzen mehr – glauben Sie mir, man gewöhnt sich daran – wohl aber die Tatsache, dass es in unserer multikulturellen Gesellschaft Tendenzen gibt, die für die Zukunft nichts Gutes erahnen lassen- etwa
Rassismus, religiöser oder antireligiöser und nationaler Fanatismus.
Gegen diese Entwicklungen können wir gemeinsam nur angehen, wenn wir uns immer wieder stark machen für das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung, ohne eine politisch korrekte Angst vor Meinungsäußerungen, die nicht auf breiten Konsens stoßen bzw. in die Schubladen passen.
Meine Damen und Herren,
Der Gieberts-Lewin-Preis der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit ist ein ganz besonderer Preis, vor allem, wenn er an eine Muslimin geht.
Dieser Preis bedeutet für mich auch, dass das oft beschworene christlich-jüdische Erbe unserer Zivilisation durchaus auch islamische Elemente enthält.
Für mich bedeutet das die Verpflichtung, mich noch mehr als bisher einzusetzen für das gemeinsame Erbe dieser Religionen.
Uns trennt nicht der Glaube, uns trennen die Extremisten.
Sie sind es, die Widersprüche zwischen den Religionen aufbauen, die Zwietracht säen in die Herzen der Menschen und in den Alltag; die nicht das Gemeinsame sehen wollen, sondern nur das Trennende.
Für die gemeinsamen Wurzeln unserer Religionen, wie ich sie sehe und verstehe, möchte ich ein Beispiel geben, mit einem Zitat aus dem Koran. In Sure 2, Vers 136 steht:,
„Sagt Wir glauben an Gott und an das, was uns von droben erteilt worden ist, und das was Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und ihren Nachkommen erteilt worden ist, und das, was Moses und Jesus gewährt worden ist; und das, was allen anderen Propheten von ihrem Erhalter gewährt worden ist: wir machen keinen Unterschied zwischen irgendeinem von ihnen. Und Ihm ergeben wir uns.“
Oder wie die Theologin, Prof. Beyza Bilgin von der Universität Ankara schreibt:“ Wir müssen unter uns die echte Theologie verbreiten, die uns lehren wird, dass alle Menschen und alle Völker Träger von Gottes Seele sind und deswegen alles Guten würdig. Dafür haben wir uns mit dem heiligen Abraham zu treffen.“
Manche so weit gehen zu behaupten, ihr Gott sei ein anderer Gott! Ein anderer Gott? Wie viele Götter soll es denn geben? Zwei? Gar Drei?
Da es aber nur EINEN Gott gibt, können die gewiss vorhandenen Unterschiede in den verschiedenen Religionen nur in den verschiedenen Gottesbildern liegen – also den Vorstellungen, die Menschen sich von Gott machen. Unterschiede müssen nichts trennendes sein, wenn wir immer wieder zum gemeinsamen Nenner finden.
Der Koran sagt in Sure 5 („Der Tisch“), Vers 48:
„Für jeden von euch haben wir ein verschiedenes Gesetz und eine Lebensweise bestimmt. Und wenn Gott es so gewollt hätte, Er hätte euch alle sicherlich zu einer einzigen Gemeinschaft machen können: Aber (Er) wollte es anders, um euch zu prüfen durch das, was er euch gewährt. „Wetteifert daher miteinander im Tun guter Werke! Zu Gott müsst ihr alle zurückkehren; und dann wird Er euch wahrhaft verstehen lassen, worüber ihr uneins zu sein pflegtet.“
Man muss diese Sure nur mit der berühmten Ringparabel des großen Aufklärers Lessing vergleichen, und siehe da: Die Aussagen sind, wenn auch nicht wortgleich, so zumindest im Grundsätzlichen nah beieinander:
Lessing, Nathan der Weise, 3. Aufzug, 7. Auftritt:
„Hat von Euch jeder seinen Ring vom Vater: so glaubt jeder sicher seinen Ring den echten.
Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von Euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring‘ an den Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf‘!“
Womit wir wieder beim gemeinsamen Nenner wären, die da sind Aufklärung und Menschenrechte.
Gott hat offenbar viel Geduld gehabt mit den Menschen, wie es die immer wiederkehrende Offenbarung zeigt. Jetzt müssen die Menschen miteinander Geduld haben. Und miteinander im Guten wetteifern.
Religion darf in unserer multireligiösen Gesellschaft nicht immer wieder zum Anlass für Konflikte werden, wenn wir uns bewusst machen, dass der Bund Gottes für alle gilt, ohne Unterschied.
Es ist unsere Pflicht, und nach der heutigen Preisverleihung meine ganz besondere Verpflichtung, an dieser Aufgabe mitzuarbeiten.
Wir müssen den Mut aufbringen, für das zu kämpfen, was wir für richtig halten und das auch aussprechen. Um es mit den Worten des 1990 gestorbenen Lyrikers Jacques Prévert zusammenzufassen: „wenn die Wahrheit nicht frei ist, dann ist die Freiheit nicht wahr!“